Transformation des Gesundheitswesens in Sierra Leone: Eine Zukunftsvision für sichere und bezahlbare Operationen

Von Dr. Austin Demby, Gesundheitsminister Sierra Leone

Wenn die Experten für Chirurgie und Gesundheitsversorgung in dieser Woche zur 64. Jahreskonferenz und Wissenschaftstagung des “West African College of Surgeons” in Sierra Leone zusammenkommen, wird dadurch auch das große Engagement zur Entwicklung chirurgischer Kompetenzen und verbesserter Versorgung in der Region deutlich spürbar. Vor allem ein Thema steht im Zentrum der Konferenz: der Zugang zu sicherer und bezahlbarer chirurgischer und anästhesiologischer Versorgung in Westafrika. Dieses Thema verdeutlicht gleichzeitig die wachsende Notwendigkeit, Ungleichgewichte in der Gesundheitsversorgung und medizinischen Kompetenz in der Region zu beheben. Ganz entscheidend für die Bevölkerung ist dabei der gleichberechtigte Zugang zu Operationen von hoher Qualität.

Das Spektrum der chirurgischen Bedürfnisse in Sierra Leone ist breit gefächert und umfasst neben grundlegenden Eingriffen in der Geburtshilfe auch die Unfallchirurgie, orthopädische Chirurgie und viele mehr. Die Nachfrage nach chirurgischen Eingriffen ist hoch – eine rechtzeitig durchgeführte Operation ist oft entscheidend. Derzeit sind unsere chirurgischen Kapazitäten im Hinblick auf die Anzahl der Chirurgen allerdings extrem begrenzt: Es gibt nur 15 Assistenzärzte, sechs Allgemeinchirurgen, zwei Orthopäden und zwei Urologen, welche eine Bevölkerung von acht Millionen Menschen versorgen müssen.

Der Zugang zu einer sicheren chirurgischen Versorgung ist ein grundlegendes Bedürfnis. Wir sind der festen Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht auf Leben hat. Jedes Leben zählt und wir setzen uns unermüdlich dafür ein, diesen Grundsatz durch die Bereitstellung einer hochwertigen chirurgischen Versorgung zu wahren.

Als Gesundheitsminister von Sierra Leone habe ich mich der Verwirklichung der Vision des Präsidenten verschrieben, in die Menschen und die Entwicklung unseres Humankapitals zu investieren. Meine Aufgabe ist es, mich bei der Entwicklung unserer Nation vor allem auf den Gesundheitsaspekt zu konzentrieren und dafür zu sorgen, dass unsere Bevölkerung gesund ist, sodass jeder Einzelne sein volles Potenzial – sei es als Individuum, Familienmitglied, Mitglied von Gemeinden und Bezirken oder einfach als Bürger des Landes – einsetzen kann und am Wohlstand des Kontinents mitwirken zu können.

Die Transformation des Gesundheitswesens in Sierra Leone ist ein facettenreicher Weg, der gemeinsame Anstrengungen, Innovation und unerschütterliche Entschlossenheit erfordert. Wir sind dabei, die Grundlagen für ein umfassendes Gesundheitssystem zu schaffen, das den vielfältigen Bedürfnissen unserer Bevölkerung gerecht wird. Die Herausforderungen sind groß, aber mit Entschlossenheit, Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Vision, glauben wir an die Kraft eines veränderten Gesundheitswesens, die unser Land und seine Menschen voranbringen wird.

Sichere Operationen und chirurgische Ausbildung: Die Eckpfeiler der Gesundheitsversorgung

Die Verbesserung des Zugangs zu sicherer und erschwinglicher chirurgischer und anästhesiologischer Versorgung in Westafrika ist von entscheidender Bedeutung. Die derzeitige Situation zeigt, dass die Fähigkeiten und Kapazitäten im Gesundheitswesen in der Region sehr unterschiedlich sind. Durch die Förderung der Zusammenarbeit und Vernetzung zwischen den Ländern, können wir die gemeinsamen Kräfte bündeln und Ressourcen nutzen, um diese Lücken effizienter zu schließen.

Die Behebung des kritischen Mangels an Chirurgen in unserem eigenen Land ist dabei von größter Bedeutung. Unsere Strategie sieht vor, dieses Problem aus verschiedenen Richtungen anzugehen. Zum einen, auf der Angebotsseite: Wir werden die Zahl der Allgemein- und Fachchirurgen landesweit erhöhen. Außerdem hoffen wir, die Zahl der Assistenzärzte, die wir derzeit haben, ebenfalls und drastisch zu erhöhen. Dafür haben wir kürzlich mehrere neue Programme für Assistenzärzte auf den Weg gebracht und drei neue Ausbildungsstätten gegründet.

Zudem ist und bleibt klar, dass nicht in jedem Dorf oder jeder Gemeinde Spitzenchirurgen zur Verfügung stehen können. Deshalb suchen wir nach Möglichkeiten, die Fähigkeiten von kommunalen Mitarbeitern im Gesundheitswesen zu erweitern, indem wir ihnen zum Beispiel chirurgische Grundkenntnisse vermitteln. Damit versetzen wir sie in die Lage, selbst in entlegenen Teilen des Landes kleinere Operationen durchzuführen.

Bei unseren laufenden Bemühungen, die komplexe medizinische Versorgungslandschaft in Sierra Leone zu koordinieren, hat sich mein Augenmerk auf die enorme Bedeutung sicherer Operationen und die dringende Notwendigkeit einer umfassenden chirurgischen Ausbildung gerichtet. Ich wache jeden Morgen mit dem festen Willen auf, die Gesundheitsversorgung in diesem Land zu verändern. Ich freue mich, dass ich dabei von Menschen umgeben bin, die dieselbe Entschlossenheit zeigen.

Ich erzähle anderen oft, dass ich manchmal wütend bin. Ich bin überzeugt, dass Wut ein wertvoller Indikator dafür sein kann, wenn etwas inakzeptabel ist. Es ist inakzeptabel, dass es in unserem Land einen vermeidbaren Tod gibt. Es ist nicht hinnehmbar, dass es in diesem Land mit all den uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu einer HIV-Infektion kommt. Es ist nicht hinnehmbar, dass jemand an AIDS stirbt, obwohl wir alle Mittel zur Verfügung haben. 

Ich denke, es ist angemessen, Wut hinsichtlich dieser Zustände zu empfinden, weil sie zum Handeln anregt. Wenn man wütend ist, ist man gezwungen, etwas dagegen zu tun. Es ist nicht einfach nur ein weiteres Baby, das gestorben ist; jedes Kind, jeder Mensch ist ein Individuum mit dem Recht zu leben.

Wir arbeiten gerade mit unserem Gesundheitspersonal im ganzen Land daran, die innere Einstellung zu vermitteln, dass das Leben eines jeden Menschen gleich zählt.

Wenn jemand ein Krankenhaus oder eine Klinik betritt, geht er aus gutem Grund nicht zu einem traditionellen Heiler. Patienten gehen ins Krankenhaus in der Gewissheit, dass sie dort die nötige Behandlung erhalten und mitfühlende Menschen finden, die sich um ihre Gesundheit kümmern. Ich arbeite mit meinem Team daran, dass die Menschen sich sicher fühlen können, wenn sie unsere Hilfe in Anspruch nehmen.

Indem wir die Bevölkerung mobilisieren und enge Beziehungen zu den Dienstleistern und den Menschen, denen sie dienen, aufbauen, haben wir das Rezept, um in Sierra Leone dramatische Veränderungen zu bewirken. Wir vergleichen uns nicht mit anderen Nationen, wir messen uns an uns selbst. Wir setzen uns kühne, scheinbar unmögliche Ziele und wir arbeiten darauf hin, sie zu erreichen. Das ist aufregend, denn gleichzeitig ist es eine echte Chance, etwas im Leben der Menschen zu verändern.

Bildung, Gesundheit und Ernährungssicherheit: Der Dreiklang für die nationale Entwicklung

Unser Land hat, wie viele andere auch, mit einer Vielzahl von Herausforderungen zu kämpfen, doch unser unermüdliches Engagement gilt der Bewältigung dieser Probleme, insbesondere in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Nahrungssicherheit, die als grundlegende Säulen die nationale Entwicklung vorantreiben.

Sierra Leones Weg in eine gesündere und blühende Zukunft beginnt mit der Bildung. Unsere Prioritäten im Gesundheitswesen sind Investitionen in die Bildung, um den Erwerb von Wissen und die Entfaltung des vollen Potenzials des Einzelnen zu ermöglichen.

Mit der Bildung verbunden ist die Notwendigkeit einer gesunden Bevölkerung. Eine gebildete, gesunde Bevölkerung ist besser in der Lage, zur nationalen Entwicklung beizutragen, den Kreislauf der Armut zu durchbrechen und eine gesunde Gesellschaft zu fördern.

Die Nahrungssicherheit ist das dritte Element unseres Dreiklangs, denn eine gut ernährte Bevölkerung ist besser in der Lage, sich sowohl körperlich als auch geistig zu entwickeln.

Zusammenarbeit mit Organisationen für nachhaltige Lösungen

Unsere Zusammenarbeit mit Organisationen wie Mercy Ships ist von entscheidender Bedeutung. Sie ermöglicht chirurgische Eingriffe und die Fortbildung lokaler medizinischer Fachkräfte. Der unermüdliche Einsatz dieser Organisation, der vom Geist der Teamarbeit, der Fürsorge und der Hoffnung getragen wird, ist sehr lobenswert. Diese Arbeit gibt jenen Menschen Hoffnung, die vor unvorstellbaren Herausforderungen stehen.

Die Fortbildung von Krankenschwestern und Anästhesisten bis hin zu Technikern und Seelsorgern mitzuerleben und zu sehen, wie liebevoll mit den Patienten umgegangen wird – das ist einfach unglaublich. Unsere Assistenzärzte stehen Schlange, um auf den Schiffen an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen zu können. Außerdem freuen wir uns über die Aussicht auf eine zahnmedizinische Ausbildung und die mögliche Einrichtung einer zahnmedizinischen Ausbildungsstätte in unserem Land. Diese Initiativen sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Aufbau eines autarken Gesundheitssystems, das auch lange nach dem Auslaufen von Mercy Ships weiter bestehen kann.

Überdies ist die derzeitige Zusammenkunft des “West African College of Surgeons” in Freetown in Sierra Leone ein großer Meilenstein, der die Gelegenheit bietet, unsere Fortschritte zu präsentieren und die Zusammenarbeit zwischen den westafrikanischen Ländern zu fördern.  Wir erwarten über 700 Chirurgen aus dem gesamten Kontinent und darüber hinaus. Sie sind hier, um sehr offen über den Stand der Chirurgie in Afrika und über die Zukunft des Kontinents zu diskutieren und darüber, worauf wir unseren Fokus richten sollten.


Die Vision für die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Sierra Leone

Richten wir unseren Blick nach vorn – die Vision für die Zukunft der Gesundheitsversorgung in Sierra Leone gliedert sich in vier Bereiche. Der erste Bereich ist die medizinische Grundversorgung, wobei die Bedeutung einer möglichst bürgernahen Gesundheitsversorgung hervorzuheben ist. Derzeit haben 85 % der Bevölkerung eine Krankenstation in einem Umkreis von fünf Kilometern um ihren Wohnort. Das ist schon sehr gut im Hinblick auf Nähe und Zugang.

Es ist spannend, die konkreten Auswirkungen dieser Bemühungen zu beobachten. Wir sehen beispielsweise einen deutlichen Rückgang der Müttersterblichkeitsrate, eine Verbesserung der Impfraten und die Einführung neuer Impfstoffe und Verfahren. Kürzlich haben wir einen neuen Malaria-Impfstoff auf den Markt gebracht und erst vor Kurzem haben wir einen neuen HPV-Impfstoff eingeführt, um Gebärmutterhalskrebs in unserem Land vorzubeugen. 

Der zweite Bereich betrifft die Personalsituation, wobei der Schwerpunkt auf der Erhöhung der Zahl der qualifizierten medizinischen Fachkräfte, einschließlich der Chirurgen, liegt. Unser Ziel ist es, die Kompetenzen, die Verteilung und die Bindung von Fachkräften zu verbessern, um ein ausgewogenes und kompetentes Angebot zu gewährleisten.

Der dritte Bereich konzentriert sich auf die Qualität, d. h. auf die Notwendigkeit zuverlässiger Ausrüstung und deren präventiver Wartungsmöglichkeiten sowie der Verfügbarkeit von Medikamenten.

Der vierte Bereich ist die Gesundheitssicherheit. Darunter fällt die Fähigkeit, mit schneller Reaktion auf den Ausbruch einer Pandemie reagieren zu können und somit die Eindämmung einer solchen Notlage zu gewährleisten. Wir haben eine nationale Gesundheitsbehörde eingerichtet, um eine koordinierte Reaktion auf Notfälle sicherzustellen. Zusätzlich binden wir Epidemiologen in Routineprogramme ein. Die Daten aus verschiedenen Gesundheitsinitiativen werden von ihnen genau überwacht, um ungewöhnliche Vorkommnisse frühzeitig zu erkennen. 

Wir sind fest entschlossen, viele der Herausforderungen auf direktem Wege anzugehen und sind zuversichtlich, dass wir durch Einheit und Resilienz alle Hindernisse überwinden können. Mit dem Fokus auf die grundlegenden Bedürfnisse und einer nachhaltigen Entwicklung sind wir bereit, eine bessere Zukunft für unser Land zu schaffen.

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Dominic Pithan
Dominic Pithan

berichtet über den Einsatz von Mercy Ships in Sierra Leone.

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